Fussel ermöglicht Familien mit krebskranken Kindern Erholung in Tossens

Stephanie und René Wienert genießen die Woche in Tossens genau so wie ihre Tochter Greta und ihr Sohn Justus. Fussel-Vorsitzender Heiner Westphal und seine Mitstreiter haben es möglich gemacht. Foto: Glückselig

Familien mit krebskranken Kindern konnten sich eine Woche in der Gemeinde Butjadingen erholen und neue Kraft tanken. Der Verein „Fussel – Hilfe für krebskranke Kinder“ hat das möglich gemacht. Eine Familie erzählt ihre dramatische Geschichte.

Die Wochen im August und September 2022, in denen ihr Leben auf den Kopf gestellt wird und nichts mehr so ist, wie es einmal war, Stephanie und René Wienert aus Hildesheim werden sie nie vergessen. Ihre damals vier Jahre alte Tochter Greta weint nicht, sie brüllt. 24 Stunden am Tag. Die Eltern sind verzweifelt, Ärzte wissen keinen Rat. Erst sehr viel später finden Spezialisten heraus: Das Mädchen leidet an einer extrem seltenen Krebsart. Ein Tumor hat sich hinter Gretas Jochbein gebildet und wächst in ihr Gehirn. Knapp sechs Monate später: Greta tobt vergnügt mit ihrem Bruder Justus durch einen der Ferienbungalows von Center Parcs in Tossens. Man sieht dem Mädchen nicht an, dass es schwer krank ist. Der Tumor ist noch da, aber er umschließt nicht mehr die ins Gehirn führende Hauptvene, kann auch keinen Druck mehr ausüben. Die brutalen Kopfschmerzen, die Greta im vergangenen Jahr hatte, sie sind vorbei.

Am Friesenstrand den Augenblick genießen
Stephanie Wienert hat vor einigen Tagen mit einer Tasse Kaffee am Friesenstrand in Tossens gesessen und einfach nur aufs Meer geguckt. Früher wäre ein solcher Moment vergangen und schnell in Vergessenheit geraten. Heute empfindet Stephanie Wienert ihn als ein großes Geschenk. Die Krankheit der Tochter hat vieles verändert. „Die Prioritäten verschieben sich“, sagt Stephanie Wienert. Dass die Hildesheimerin und ihre Familie solche Momente in den zurückliegenden Wochen genießen durften, ist dem Verein „Fussel – Hilfe für krebskranke Kinder“ zu verdanken. Vorsitzender Heiner Westphal und seine Mitstreiter ermöglichen seit vielen Jahren Familien mit krebskranken Kindern, an der Nordsee eine Woche auszuspannen, durchzuatmen und zu einem normalen Familienleben zurückzukehren. Die Aktion findet nach drei Jahren Corona-Zwangspause zum 23. Mal statt. Zehn Familien mit insgesamt 47 Personen – darunter 27 Kindern – tanken in Tossens neue Kraft. Sie kommen aus dem Großraum Hannover, aus Ostfriesland, aus dem Raum Oldenburg und zum Teil auch aus der Wesermarsch. Der Kontakt kommt über Elternvereine zustande, die die Familien vermitteln. Die Wienerts sind eine davon. Sie besuchen den Klettergarten in Mitteldeich, das NationalparkHaus in Fedderwardersiel, die Moorseer Mühle. Vor allem aber genießen sie eine unbeschwerte Zeit, die nicht von Sorgen geprägt ist und davon, dass sich die Eltern nur noch zwischen Tür und Angel sehen.

So geht es im Herbst wochenlang. Stephanie Wienert ist bei ihrer Tochter in der Klinik, René Wienert macht seinen Job und kümmert sich um den neun Jahre alten Justus. Ein an der Klinik geparktes Auto dient der Wäscheübergabe. Stephanie Wienert stellt eine Tasche mit Schmutzwäsche in den Kofferraum, René Wienert tauscht sie gegen eine Tasche mit frischer Wäsche aus. Als ihrer Greta in den Sommerferien 2022 bei Ausflugsfahrten im Auto immer schlecht wird, was davor nie geschah, denken sich Stephanie und René Wienert nichts Böses. Als Greta kurz darauf über Kopfschmerzen klagt, läuten auch noch keine Alarmglocken. Als diese Kopfschmerzen am vierten Tag noch nicht vorbei sind, sondern augenscheinlich immer schlimmer werden, schnappen die Wienerts sich ihre Tochter und gehen mit ihr in die Notaufnahme einer Hildesheimer Klinik. Das ist der Beginn einer Odyssee. Es ist Wochenende, die Wienerts werden auf Montag vertröstet. Greta bekommt Schmerzmittel. Sie könnte genauso gut Smarties schlucken; die Wirkung wäre die gleiche. In den nächsten Wochen zeigt ein MRT keine Auffälligkeiten. Später wird sich herausstellen, dass man schon an dieser Stelle hätte Klarheit haben können. Doch die Suche nach dem Grund für Gretas brutale Schmerzen geht weiter. Ärzte tippen auf einen Zeckenbiss, vielleicht eine Hirnhautentzündung. Greta bekommt Schmerzmittel in der höchsten für eine Vierjährige vertretbaren Dosis. Sie helfen nicht. Nach fünf Wochen wird in der Kinderklinik in Hannover ein neues MRT gemacht. Und jetzt offenbart sich den Ärzten, was mit Greta los ist: Sie leidet an einer sogenannten Langerhans-Zell-Histiozytose, eine extrem seltene Krankheit, mit der auch die Fachleute an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) nur durchschnittlich vier Mal im Jahr zu tun haben. In der Folge hat sich an Gretas Felsenbein – so heißt die Rückseite des Jochbeins – ein Tumor von fast der Größe eines Tischtennisballs gebildet. 

Riskante Operation nimmt ein glückliches Ende
An der MHH gelingt ein höchst komplizierter Eingriff. Durch Gretas Gehörgang entnimmt ein Professor, der als absolute Kapazität auf seinem Gebiet gilt, bei einer achtstündigen Operation eine Gewebeprobe und ein Stück des Tumors. Nun endlich hört der Druck auf Gretas Gehirn auf. Sie hat keine Schmerzen mehr. Die OP ist riskant. Greta könnte auf der rechten Seite ihr Augenlicht verlieren oder taub werden. Doch das geschieht nicht. Stephanie und René Wienert haben keine Scheu, die Leidensgeschichte ihrer Tochter zu erzählen. Im Gegenteil, sie tun das frei und offen, brauchen es, weil es den Ereignissen vielleicht ein wenig ihren Schrecken nimmt. Deshalb sind sie auch so froh über die Möglichkeit, sich in Tossens mit anderen betroffenen Eltern auszutauschen. Im Freundes- und Bekanntenkreis hört keiner gerne zu. Dafür ist die Geschichte zu schlimm. Wird sie ein gutes Ende nehmen? Greta bekommt Chemo. Ihre Eltern sind hoffnungsvoll, dass der Tumor sich dadurch verkleinert, dass die Medikamente ihn abtöten. Greta und Justus wird es unten bei den Erwachsenen zu langweilig. Sie gehen ins Obergeschoss des Ferienhauses, um zu toben. Greta kann das wieder. Sie kann auch wieder lachen. Stephanie und René Wienert sind glücklich darüber. 2024 soll Greta eingeschult werden. Das ist das Ziel, an das sie sich klammern.

VON DETLEF GLÜCKSELIG, Kreiszeitung Wesermarsch vom 08.04.2023